Materialismus und Idealismus.

Vom Kopf auf die Füße.


In meinen jungen Jahren war es üblich, Marx durch Hegel zu erklären: Er habe jenen "vom Kopf auf die Füße gestellt". Nach Marxens eigener (unrichtigen)* Auffassung hätte Hegel aus zwei Teilen bestanden, dem Fichte'schen Subjekt und der spinozischen Substanz. Beim bloßen Vom-Kopf-auf-die-Füße würde sich daran nichts ändern, allenfalls würden die Seiten verkehrt. Die 'Substanz' gehörte aber ganz ausgeschieden, wenn Marx, wie er doch wollte, ein revolutionärer Denker war. Sie ist der Nistplatz aller Mystifikationen und aller Reaktion. Und, was wissenschaftlich erheblicher ist, sie verhindert jedes Verständnis der Kritik der Politischen Ökonomie!

Die Kritik der Politischen Ökonomie verfährt wie alle Kritische Philosophie. Sie überprüft die überkommenen Begriffe auf ihre Herkunft und Tragfähigkeit, und was sich nicht bewährt, wird verworfen: An den verselbstän- digten Kategorien wird gezeigt, dass und wie in ihnen absichtsvoll handelnde historische Subjekte verborgen sind. Dies ist die positive Ansicht der Kritik: Sie zeigt die Menschen tätig, wo die Apologetik zeitlose Form behauptet.

Als Weihrauch der ominösen Substanz dient die mystifizierte, weil schematisierte und automatisierte Dialektik. Sie ist das Perfideste an Hegels zusammengestohlenen Galimatias. Die analytisch-synthetische Methode ist bei Fichte das Werkzeug in der Hand des Kritikers, mit dem er die verdinglichten Begriffe auseinandernimmt und die ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen freilegt. Bei Hegel ist sie "Selbstbewegung des Begriffs", die ohne tätiges Subjekt auskommt: Was als Subjekt erscheint, ist lediglich Agens der sich entfaltenden (und wieder zu- sammenfaltenden) Substanz. - Und in dieser Form konnte sie, als es soweit war, sich zum allbereiten Arkanum in Stalins "Dialektischem Materialismus" fügen. 


*

Die Weltrevolution, um die es im Denken von Marx doch immer ging, hat nicht stattgefunden. Wenn sie ihre Zeit hatte, dann hat sie sie versäumt. Allerdings hat auch nicht die Kritik der Politischen Ökonomie sie postu- liert noch postulieren können. Die Emanzipation der Proleratiats durch die kommunistische Revolution war nicht das gedankliche Resultat der Kritik, sondern lag ihr als Motiv zu Grunde. Die Kritik der Politischen Ökonomie endet beim tendenziellen Fall der Profitrate, und der wird kommen, doch wann, ist theoretisch nicht abzusehen. Es kann auch sein, dass er niemals akut wird - und doch bestimmt seine Tendenz das krisenhafte Auf und Ab der Weltwirtschaft heute so unmittelbar wie nie. 

Das Kapital ist kein Nachschlagwerk, aus dem man lesen kann, was morgen auf uns zukommt. Es ist eine Kritik, die erst mit ihrem Gegenstand hinfällig wird.


*) Diese Beschreibung träfe auf den jüngeren Schellings zu. Sie stammt auch nicht von Marx selbst, sondern von Moses Hess, dessen Kenntnisse lückenhaft waren. Marx hat sie später nie wieder aufgegriffen.





Das Bedürfnis ist thetisch.
  

'Bedürfnis' ist bei Marx eine dynamische Kategorie. Es ist das poietische Vermögen, durch welches das Subjekt sich selbst als Subjekt 'setzt':

1. Landläufig ist 'Bedürfnis' ein Mangel, der aufgefüllt, ein Loch, das noch gestopft werden muss. Je bedürftiger der Mensch, umso ärmer. Aber nicht bei Marx: "Der Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannig- faltigkeit der Bedürfnisse." Grundrisse, S. 426. Bedürfnis ist kein Mangel, sondern ein Vermögen.
  
2. Die Erzeugung des neuen Bedürfnisses "ist die erste geschichtliche Tat": Deutsche Ideologie (Feuerbachkapitel), MEW 3, S. 28. Einige Zeilen zuvor hatten Marx/Engels schon einmal eine 'erste geschichtliche Tat' vermerkt, nämlich den Gebrauch von Werkzeugen. Zwar nicht logisch, aber doch historisch verstanden, läuft es freilich auf dasselbe hinaus. Es sind die Erfindung und der Gebrauch von Werkzeugen, die es dem Menschen erlauben, sein vor-gesetztes Naturbedürfnis über-zu-erfüllen – und Raum schaffen für das Erfinden neuer Bedürfnisse. "Ihre Bedürfnissse, also ihre Natur", heißt es später in der Deutschen Ideologie, und von einer selbsterzeugten Na- tur ist also die Rede: generatio aequivoca.*

'Bedürfnis' nimmt bei Marx systematisch denselben Platz ein wie bei Fichte Trieb bzw. Streben [Wollen], und entspricht der Husserl'schen Intentionalität.**

*) MEW 3, S. 44

in 2010

**) Und nicht zu vergessen: Platos Eros, der ewig 'nach Schönheit strebt, weil er sie nicht hat'.  


Nachtrag, Juni 2015

In den während der sechziger Jahre zu einiger Prominenz gelangten Pariser Manuskripten zeigte Marx sichunverholen als Feuerbachianer, in der Heiligen Familie stellten Marx und Engels ihren 'Materialismus' groß heraus; doch über Feuerbach hinaus gegangen sind sie erst in der Deutschen Ideologie, und zwar an ebendiesem Punkt: Bei Feuerbach heißt Bedürftigkeit leidend sein. Nur als Leidenden habe der bisherige Materialismus den Menschen auffassen können, die tätige Seite sei ausschließlich von den idealistischen Philosophen entwickelt worden. Die neu eingeführte Auffassung vom Bedürfnis als einem produktiven Vermögen war der erste originär 'marxistische' Gedanke.







Entfremdete Arbeit.


Vorstellen ist das Schema des Handelns - Urbild, Grundform, Modell.

Wirkliche sinnliche praktische Tätigkeit kenne der Idealismus nicht, meinte Marx - wenn auch die tätige Seite des Menschen im Idealismus stärker entwickelt sei als bei den Materialisten, bei denen der Mensch nur als Leidender vorkommt. Unter Idealismus verstand er das dogmatische Hegel'sche System, die Wissenschaftslehre kannte er nicht.* Auf die Wissenschaftslehre trifft sein Verdikt nicht zu. 

Er will sagen, der Idealismus löse alle wirklich Arbeit letzten Endes in bloßes Denken auf. Das tut Fichte nicht, in der Wissenschaftslehre hebt das Bewusstsein im Gegenteil bei der Sinnlichkeit an: Zuerst ist Gefühl, und darunter versteht er keinen Gemütszustand, sondern ganz prosaisch und wie John Locke die Meldungen der Sinneszellen. 

Er will ja nicht die Welt aus dem Bewusstsein erklären, sondern umgekehrt das Bewusstsein aus der Welt. Unter Welt versteht er allerdings nicht einen Haufen toter Gegenstände, sondern den Raum menschlicher Tätigkeit, und die ist sinnlich, bevor** sie Vorstellung werden kann.

Wenn man indes alle kontingenten empirischen Bestimmungen abzieht, bleibt von der sinnlichen praktischen Tätigkeit allein das Vorstellen übrig.

So sah es auch Marx. "Eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschli- chen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war."***

Es ist das Vorstellen, das menschliche Arbeit von den Tätigkeiten der Tiere unterscheidet. Zur bloßen Verausgabung rein physischer Energie, zur Äußerung von Arbeitskraft, haben erst das Kapital und die Große Industrie die Arbeit entfremdet. Da muss man nicht lang mit dialektischem Hintersinn im 'Herr und Knecht'-Kapitel derPhänomenologie suchen; in der Wissenschaftslehre liegt alles klar zutage.

*) Das lässt sich nachweisen.

**) Dazwischen tritt die Reflexion = Scheidung der Einbildungskraft in einen realen und einen idealenTeil.
***) K. Marx, Das Kapital. Band 1, MEW 23, S. 193 




Echter durchgeführter Kritizismus.

agossweiler

Der Fels, auf dem die Politische Ökonomie ihre Kirche gebaut hatte, war der Wertbegriff. Die Kritik der Politi- schen Ökonomie musste daher früher oder später an den Wertbegriff gelangen. Sie tat es früher. Das erste Do- kument der Kritik der Politischen Ökonomie war Engels' Aufsatz in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern,* wo der Wertbegriff naiv und unbefangen bestritten wurde: Wenn es so wäre, wie die Politischen Ökonomen behaup- ten, dass sich nämlich die Waren gleichmäßig nach der Menge der in ihnen enthaltenen Arbeiten austauschten, dann gäbe es nicht nur keine Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital; sondern dann könnte das Kapital auch keinen Profit machen. Es gibt aber einen Profit, und er macht das Kapital überhaupt erst aus, folglich…

Marx nahm – später – einen zweiten Anlauf: 'Wert' ist keine Eigenschaft, die in den Dingen steckt, sondern ein Verhältnis zwischen Waren. 

In den Verhältnissen der Dinge zu einander verbergen sich Verhältnisse zwischen Menschen. Die Verhältnisse zwischen Menschen sind keine Zustände, sondern Tätigkeiten: Menschen verhalten sich - in dieser Hinsicht so, in jener Hinsicht anders. (Dinge tun garnichts.)

Nicht Waren tauschen sich aus, sondern Produzenten tauschen ihre Produkte. Wenn dies regelmäßig geschieht, werden die Produkte zu Waren und es bildet sich ein gemeinsames Maß heraus, nach dem sie ihre Produkte ge- geneinander tauschen. Dieses Maß nennen wir Wert.


Bei der weiteren Verfolgung dieses Gedankens fand sich, dass dieses Verhältnis nur dann eintrat, wenn und sofern die Menschen sich als Produzenten gegenübertraten. Die einzige Ware aber, die der Lohnarbeiter dem Kapital anbieten kann, ist nicht ein Produkt,** denn dafür fehlen ihm die (Produktions-)Mittel; sondern er selbst - nämlich seine Arbeitskraft. Die ist gerade soviel wert, wie ihn deren tägliche Reproduktion kostet; also der Arbeitslohn. Sie selber, die Arbeitskraft nämlich, kann viel mehr Wert produzieren, als ihre eigene (Re)Pro- duktion gekostet hat: Daher der Mehrwert des Kapitalisten.

*

Dieser Gedankengang wurde erst möglich, nachdem die Kategorie des Werts aufgelöst war aus einem Verhältnis zwischen sachlichen Eigenschaften der Dinge in das aktive Verhalten von Subjekten. Nicht möglich war diese Einsicht, solange Wert, Gebrauchswert und Tauschwert verstanden wurden als die Selbstzerlegung und das gegenseitige Umschlagen von Begriffen; nicht möglich, solange sich Marx in den Grundrissen an der Hegel'schen Methode versuchte.*** 

Möglich war die Kritik der Politischen Ökonomie erst nach der Wiederherstellung der Methode des echten durchgeführten Kritizismus: jedes Denkgebilde, das uns irgend als Ding imponieren will, zurückführen auf die absichtsvollen Handlungen von Subjekten. Die Auffassung der Geschichte als einer Selbstbewegung des Be- griffs tat das Gegenteil.

*) MEW 1, S. 499-524
**) MEW 42, S. 193
***) MEW 42, S. 193 Anmerkung.





Die pragmatische Wiederherstellung der kritischen Methode.


Begriffe ohne Anschauung sind leer, hatte Kant den rationalistischen Dogmatikern seiner Zeit, zu denen er eben noch selbst gehört hatte, hinter die Ohren geschrieben. Begriffe werden nicht ergriffen, sondern vom reflektierenden Verstand aus Anschauungen gemacht. Das sollte als Die Kopernikanische Wende der Philoso- phie in die Lehrbücher eingehen. Doch Kant war noch keine zehn Jahre tot, da geisterte der Begriff schon wieder als sich selbst bewegendes Subjekt/Objekt durch die Metaphysik.

Dazwischen lag eine wahrhaftige Konterrevolution im Denken. Der Begriff erhebt sich als Absoluter Geist über alle Realität und verleibt sich selbst noch die Iche ein, die Geschichte, die ganze Welt ist nichts als die Parusie des Begriffs, eine zyklische Bewegung, in der er, durch die Endlichkeit hindurch, am Ende doch wieder zu sich zurückkehrt.

In der Gestalt des Hegel'schen Systems kehrte der dogmatische Rationalismus - mit mystizistischen Strähn- chen, das ist wahr - für drei Jahrzehnte zur Herrschaft zurück und vermochte selbst die literarische Erinnerung an die Kritische, die Transzendentalphilosophie zu tilgen.

Dem hat das Aufkommen der Hegel'schen Linken im deutschen Vormärz nicht wirklich Abhilfe geschaffen. Die Hegel'sche Schule war im wilden Bacchanal der Kritischen Kritik zerfallen, das war alles. An eine Rückkehr zum weiland mutwillig abgerissenen transzendentalen Ansatz dachte von den Philosophen keiner.

Nicht als Philosoph hat Marx die Hegel'sche Mystifikation überwunden, sondern als Historiker und Kritiker der Politischen Ökonomie. Sein wissenschaftliches Lebensthema war ihm von Engels in den Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie vorgegeben worden, und lange glaubte er, das lückenhafte Klassische System der Politischen Ökonomie nach Hegels dialektischer Methode vervollständigen zu sollen. Und da fand sich, dass nichtdie Begriffe sich bewegen, sondern die wirklichen historischen Subjekte. Unter großen Mühen kam er schließlich dazu, den Begriff auf sein kritisch gebotenes Maß zurückzuführen: als kritisches Instrument in der Hand des analysierenden Historikers. Dessen bestimmte Aufgabe ist gerade, die Stellen ausfindig zu machen, die von den Begriffen nicht 'erfasst' werden, und an denen der historische Bericht die Lücke füllen muss: Nicht der Wertbegriffbegründet das Kapital, sondern die Vertreibung des Landvolks vom Boden begründet das Wertgesetz.

Marx hat Fichte nicht gelesen, das lässt sich (fast) schlüssig dokumentieren und bei Gelegenheit werde ich das tun; die Dialektik in ihrer ursprünglichen, kritischen und rationellen Gestalt in Form des Fichte'schen analy- tisch-synthetischen Verfahrens, hat er nicht gekannt. Er hat auch nicht mit metatheoretischen Spekulationen über die richtige Methode begonnen, sondern mit der Analyse selbst, und musste die gebotene kritische Wen- dung auf denkpragmatischem Weg an der Stelle einführen, wo sie unvermeidlich wurde.

Nicht der Begriff 'schlägt um', sondern ein Begreifender wechselt den Gesichtspunkt, das ist das ganze Ge- heimnis der pp. Dialektik.

*

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, in dieser Ruhe wird das, was eigentlich ein Täti- ges ist, ein Gesetztes; es bleibt keine Tätigkeit mehr, sondern ein Produkt, aber nicht etwa ein anderes Produkt als die Tätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding, welches vor dem Vorstellen des Ich vorherging; sondern bloß das Handeln wird dadurch, dass es angeschaut wird, fixiert; so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschau- ung, welche auf die Tätigkeit als solche geht.
____________________________________________________

J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 32f. 


Man nennt die innere Thätigkeit, in ihrer Ruhe aufgefasst, durchgängig den Begriff... Der Begriff ist überall nichts anderes, als die Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst. ...

Im gemeinen Bewusstseyn kommen nur Begriffe vor, keinesweges Anschauungen als solche; unerachtet der Begriff nur durch die Anschauung, jedoch ohne unser Bewusstseyn, zu Stande gebracht wird. Zum Bewusst- seyn der Anschauung erhebt man sich nur durch Freiheit, wie es soeben in Absicht des Ich geschehen ist; und jede Anschauung mit Bewusstseyn bezieht sich auf einen Begriff, der der Freiheit die Richtung andeutet. Daher kommt es, dass überhaupt, so wie in unserem besonderen Falle, das Object der Anschauung / vor der Anschauung vorher daseyn soll. Dieses Objekt ist eben der Begriff. Nach unserer gegenwärtigen Erörterung sieht man, dass dieser nichts anderes sey, als die Anschauung selbst, nur nicht als solche, als Thätigkeit, sondern als Ruhe aufgefasst. 
_______________________________________________________
ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre,[1797] SW I, S. 533f.



Begreifen heißt, ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus. 
_____________________________________________________________
ders., Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW IV, S. 182


*

Derlei Reflexionen finden sich bei Marx nicht. Er bleibt eng an seinem Gegenstand, nur nebenher spottet er über das statische Denken der Begriffshuber.* Es geht aber um die Methode, die er an seinem Gegenstand tatsächlich entwickelt, und nicht um das, was er darüber sagt. 
*) s. Randglossen zu A. Wagners "Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, S. 373






Fichte, Marx und Hegel.


Im Kapitel über die Wertform* habe er "mit der hegelschen Ausdrucksweise kokettiert", schreibt Marx imNachwort zum KapitalFür Generationen 'westlicher' Marxisten und Marxianer war das seinerseits eine Koket- terie. Zu Dutzenden und Hunderten bemühten sie sich, das Marx'sche Werk im Sinn der Hegel'schen Dialektik zu deuten, denn die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erlitten habe, verhindere ja "in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat". Man müsse sie, um ihren rationellen Kern freizulegen, lediglich 'vom Kopf auf die Füße' stellen. Vom Kopf auf die Füße – das war das unfassliche Abrakadabra des pp. Westlichen Marxismus. Darüber ist viel geschrieben worden, und ein Ende war nicht abzusehen.

Immerhin ist impliziert, dass die Dialektik bei Hegel nicht das Original, sondern eine untergeschobene Fehl- farbe ist. Tatsächlich war die Urform der neueren** Dialektik das von Fichte entwickelte analytisch-synthetische Verfahren der Wissenschaftslehre. Sie will nicht sein das spekulativ eingesehene Bewegungsgesetz der Welt, sondern die Weise, in der die Philosophie (=Kant & Fichte) das vorgefundene reale Bewusstsein der Menschen erklärt: Setzen und bestimmen ist nur möglich als entgegen-setzen. Die Begriffe sind nichts anderes als die Denkakte der Menschen, die sie in der diskursiven Darstellung so behandeln, als ob sie Fakten wären.

Die Marx'sche Kritik geht so vor, dass sie unter den überzeitlichen Begriffen der Politischen Ökonomie die ihnen zu Grunde liegenden Handlungsweisen der Menschen freilegt. Indem Marx die Hegel'sche Dialektik 'vom Kopf auf die Füße' stellte, hat er sie auf ihre Fichte'sche Urform zurückgeführt. Für Fichte wie für Marx haben Ideen, Begriffe und Gedanken Realität nur, soweit sie das Handeln wirklicher Menschen ausdrücken.


War Fichte nicht 
aber Idealist und Marx erklärtermaßen Materialist?

Idealismus hat zwei verschiedene, in einem gewissen Sinn entgegengesetzte Bedeutungen. Im landläufigen, fast umgangssprachlichen (und nicht zuletzt von Marx und Engels eingeführten) Gebrauch bezeichnet er eine Leh- re, die 
 wie zuletzt die Hegel'sche und zuerst die Plato'sche Philosophie  den Ideen, Begriffen, Vorstellungen, kurz: dem Geist eine eigene Realität zuspricht; sei es neben den Erscheinungen, sei es 'hinter' denselben als ihr 'Wesen'. In der philosophischen Schulsprache heißt dieser Standpunkt darum der realistische.

Das ist eine metaphysische, Seins-logische Aussage über die Natur der Dinge. In der Schulsprache wurde der Ausdruck Idealismus in einem kritischen, Wissens-logischen Sinn gebraucht, als Aussage über Wesen und Her- kunft unseres Erkennens, Wissens, Verstehens; als eine Antwort auf die Frage, woher unsere Vorstellungen kommen. Die Auffassung, sie gingen von den Dingen 
 lat. res  aus, heißt wiederum die realistische. Dagegen steht die idealistische Auffassung, die meint, sie gingen  umgekehrt  vom Sehenden aus: gr. idein = sehen. In diesem Sinn war Fichte der Radikalste unter den Idealisten.

Ein kritischer oder, wie Fichte (mit Kant) sagt, "transzendentaler" Idealist kann logischerweise kein Ideen-Realistsein. Er kann sich zu metaphysischen, Seins-logischen Fragen überhaupt nicht äußern, denn nach seiner Vor- aussetzung kann er von einem 'Wesen' der Dinge 'hinter' ihrer Erscheinung ja nichts wissen; er kann nicht ein- mal sinnvoll danach fragen. Aber die Erscheinungen leugnet er nicht, sie sind vielmehr die einzigen Realitäten, die er kennt. Real ist nur, was angeschaut wird. Angeschaut wird jedoch, was im Raum ist. Was aber im Raum ist, ist nach Fichte Materie. So dass ein transzendentaler Idealist zwar kein metaphysischer Materialist sein kann; aber eine Forschung kann er nur als Wissenschaft achten, soweit sie materialistisch verfährt: nichts gelten lässt, als was sich in Raum und Zeit nachweisen lässt.

Zu wissenslogischen Fragen wiederum hat Marx sich theoretisch nicht geäußert. Aber indem er die dialektische Methode aus einer Selbstbewegung der Idee in ein Sezierbesteck des kritischen Subjekts zurückverwandelte, hat er sie praktisch beantwortet.

Ein Hegelianer in metaphysischem, ideenrealistischen Sinn war Marx nicht. Hegels Dialektik hat er ihrer meta- physischen, ideenrealistischen Verhüllung entkleidet und subjektiviert - und hat sie, ohne Fichte zu kennen, an ihren ursprünglichen Platz gesetzt. 

*

Ach, das ist grob und schematisch, ich weiß. Es ließe sich noch Vieles daran anknüpfen, aber das ist der sprin- gende Punkt: anknüpfen. Es ist ganz allgemein, aber in dieser Allgemeinheit trifft es zu. Folgen mögen Spezifizie- rungen und Konkretisierungen; aber keine Einschränkungen noch Relativierungen.

*) im Anhang zur ersten Auflage des I. Bands, 1867

**) im Unterschied zu dem scholastischen Begriff, der auf Plato zurückging und nur eine rhetorische Methode des Argumentierens bedeutete.






Materialistische Geschichtsauffassung.

Ludwig Feuerbach

Marx hat als Junghegelianer begonnen. Die hatten Hegel gerade soweit kritisiert, als sie die Kritik anstelle der Hegel'sch Idee zum Subjekt machten. Feuerbach hatte darin einen blassen Widerschein der christlichen Religion erkannt, Hegels Idee war eine sophistische Version Gottes: einer tröstlichen Projektion, die die Menschen von sich selbst in den Himmel geworfen hatten. Kritik hieß Atheismus. Konsequenter Atheismus ist Materialismus:nämlich das Traumbild Gottes vom Himmel holen und den Menschen auf Erden an seine Stelle setzen. "Wir waren alle momentan Feuerbachianer", schrieb Engels später.

Doch der Mensch bleibt bei Feuerbach ein Abstraktum, er teilt die Schwäche alles bisherigen Materialismus': Er bleibt rein objektiv, und so kommt der Mensch bei ihm nur als ein Leidender, nur passiv vor. "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich mensch- liche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt."* 

Dass er die wirkliche, sinnliche Tätigkeit nicht kannte, kann man wohl von Hegel sagen. Von Marx muss man sagen, dass er die Transzendentalphilosophie in ihrer Fichte'schen Radikalität nicht kannte.** Fichte hingegen kennt überhaupt kein 'Sein' vor oder neben der Tätigkeit, und reale Tätigkeit ist für ihn Voraussetzung der idealen - und er versteht darunter nicht allein, aber auch nicht zuletzt die Produktion der materiellen Lebensbedingun- gen.

Marx geht es jedenfalls nicht mehr, wie bei den früheren Materialisten, um das Wesen der Dinge, sondern um das Verständnis der Geschichte. Materialistisch ist seine Geschichtsauffassung in dem Sinn, dass sie nichts in Erwägung zieht, als was wirkliche Menschen wirklich tun. Wer sich auf den transzendentalen Standpunkt ge- stellt hat, kann nicht anders verfahren. Und wer so verfährt, muss sich, wenn er nicht auf halbem Wege stehen bleiben will, auf den transzendentalen Standpunkt begeben.

*) 1. Feuerbachthese, MEW 3, S. 5

**) Die neue Darstellung in der WL nova methodo hat er allerdings auch nicht kennen können, sie wurde erst in unsern Tagen veröffentlicht. Sie ist allerdings nur im Vortrag nond der alten verschieden, nicht in der Sache.





Vergegenständlichung als Entfremdung.


Der fact, daß mit der Entwicklung der Productivkräfte der Arbeit die gegenständlichen Bedingungen der Arbeit, die vergegenständlichte Arbeit wachsen muß im Verhältniß zur lebendigen Arbeit – es ist dieß eigentlich ein tautologischer Satz, denn was heißt wachsende Productivkraft der Arbeit anders, als daß weniger unmittelbare Arbeit erheischt ist, um ein größres Product zu schaffen und daß also der gesellschaftliche Reichthum sich mehr und mehr ausdrückt in den von der Arbeit selbst geschaffnen Bedingungen der Arbeit – erscheint vom Standpunkt des Capitals so, nicht daß das eine Moment der gesellschaftlichen Thätigkeit – die gegenständliche Arbeit – zum immer gewaltigern Leib des andren Moments, der subjektiven, lebendigen Arbeit wird, sondern daß – und dieß ist wichtig für die Lohnarbeit – die objectiven Bedingungen der Arbeit eine immer colossalere Selbstständigkeit, die sich durch ihren very extent darstellt, gegen die lebendige Arbeit annehmen, und der gesellschaftliche Reichthum in gewaltigern Portionen als fremde und beherrschende Macht der Arbeit gegenübertritt.

Der Ton wird gelegt nicht auf das Vergegenständlichtsein, sondern das Entfremdet-, Entäussert-, Veräussertsein – das Nicht-dem-Arbeiter-, sondern den personificirten Productionsbedingungen-, i. e. dem-Capital-Zugehören der ungeheuren [ver]gegenständlichten Macht, die die gesellschaftliche Arbeit selbst sich als eins ihrer Momente gegenübergestellt hat. Soweit auf dem Standpunkt des Capitals und der Lohnarbeit die Erzeugung dieses gegenständlichen Leibes der Thätigkeit im Gegensatz zum unmittelbaren Arbeitsvermögen geschieht – dieser Process der Vergegenständlichung in fact als Process der Entäusserung vom Standpunkt der Arbeit aus oder der Aneignung fremder Arbeit vom Standpunkt des Capitals aus erscheint – ist diese Verdrehung und Verkehrung eine wirkliche, keine blos gemeinte, blos in der Vorstellung der Arbeiter und Capitalisten existirende.

Aber offenbar ist dieser Verkehrungsprocess blos historische Nothwendigkeit, blos Nothwendigkeit für die Entwicklung der Productivkräfte von einem bestimmten historischen Ausgangspunkt aus, oder Basis aus, aber keineswegs eine absolute Nothwendigkeit der Production; vielmehr eine verschwindende und das Resultat und der Zweck (immanente) dieses Processes ist diese Basis selbst aufzuheben, wie diese Form des Processes.
  _______________________________________________
Grundrisse, MEGA II/1.2, S. 698   [MEW 42, S. 721f.]


Nota. - Dies war stets die Lieblingsspielwiese der hegelisierenden Marx-Interpretation: Vergegen-ständlichuung, Verdinglichung, Entfremdung; ein scheinbar vertrautes Terrain der bloß-ideologi-schen Kritik, orientiert am 'Herr-und-Knecht'-Kapitel der Phänomenologie der Geistes, wo ganz im Dunkeln bleibt, was den Knecht bewogen haben mag, sich zu unterwerfen und den Andern zu seinem Herrn zu machen. Es bleibt nur die mystifizierte Vorstellung von der Selbstbewegung des Begriffs, um da einen Sinn hineinzufinden.

Doch nicht so bei Marx. Bei ihm produzieren wirkliche Menschen sachliche Gegenstände, und sie tun das unter historisch vorgegebenen Bedingungen - und nur unter diesen Bedingungen. Die dia-lektische Form der Darstellung hat den Sinn, aus dem Strom der Erscheinungen die tätigen Subjekte hervortreten zu lassen, und nicht, sie im Gegenteil in einen selbsttragenden Prozess zu versenken. 


Und vor allem: Es geht hier nicht um Formbestimmung des (hier: fixen) Kapitals, sondern um seine absolute Größe,seinen "very extent" und seine krasse Disproportion gegen die lebendige Arbeit. 
JE 






Nota. Die obigen Fotos gehören mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie deren Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE    

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen