Mittwoch, 28. März 2018

Marx'sche Pädagogik.

Kinder als Kugelgiesser an der Barrikade
aus FAZ.NET, 28.03.2018-07:13 

Eine schwere Rüge ins Klassenbuch
Marx unterschied zwischen Erziehung und Bildung und wollte die Kinder technisch schulen. Diese Chance wurde vertan: Heute werden Kinder zum Schleimen, Petzen und Mobben motiviert. 

von Dietmar Dath

Sarkastisch beendet Marx im März 1859 einen Text über den Bildungsstand der Besitzlosen in einer der fortgeschrittensten Industrienationen der Welt, indem er feststellt, dass einschlägige Artikel in den englischen Fabrikgesetzen zwar forderten, „dass die Kinder Bescheinigungen über den Schulbesuch bringen, aber nicht, dass sie etwas gelernt haben müssen“.^ Inzwischen sind wir weiter. Lernen heißt jetzt unter anderem, „gemeinsam ins Gespräch kommen“ über Fragen wie: „Wovor hast du Angst?“

Dietmar Dath
Redakteur im Feuilleton.

So jedenfalls wünscht sich’s ein aktuelles Pädagogiklehrbuch zur Vermittlung „emotionaler Kompetenz“, das erklären will, „wie Kinder in der Gemeinschaft stark werden“. Ein anderes schlägt Übungen vor, bei denen die Kleinen sich „mit ihrem Namen identifizieren“ sollen, und „für ältere Kinder kann die Übung modifiziert werden. Sie schreiben auf dem Papierbogen die Buchstaben ihres Vornamens senkrecht untereinander. Zu jedem Buchstaben schreiben sie nun ein Wort auf, das sie in irgendeiner Weise beschreibt. Statt einem Wort können auch mal zwei oder drei Worte aufgeschrieben werden. Besonders schwierige Buchstaben im Namen wie x oder y werden einfach ausgelassen.“ Denn was man nicht gleich oder leicht schafft, das spart man sich am Besten, lernt so der kleine Xaver, der sich dann halt mit der Letternfolge „Aver“ identifiziert, worüber sich die Banknachbarinnen „Slvia“ (biodeutsch) und „Ala“ (muslimisch, beide ohne das störende y) bestimmt mit ihm freuen.

Das klingt sehr anders als bei Marx, der erstens noch zwischen Erziehung und Bildung unterschied, zweitens beides mit der Förderung körperlicher und geistiger Beweglichkeit verwirklichen wollte und drittens eine „polytechnische Ausbildung“ wünschte, welche „die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige“.*

Absicht dabei war, „die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie“ und deren Bildungsideale zu heben, wodurch Letztere also aufgehoben und übertroffen, keineswegs aber vergessen und verloren sein sollten – die heranwachsenden Menschen wünschte sich Marx dazu befähigt, ihre Geschicke allmählich selbst zu lenken, weswegen er die Sozialdemokratie früh für ihr lasches Verhältnis zur Bildung hart anging, etwa in der „Kritik des Gothaer Programms“: „Der Paragraf über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen.“**

Diese Chance wurde vertan. Dafür haben wir jetzt das von angeblich lebenslangem Lernen für alle gekennzeichnete Informationszeitalter, in dem, siehe oben, schon Kinder angeleitet werden, miteinander Gefühlslobbyismus zu spielen, und Erwachsene auf dem Handy bei Langeweile sogenannte „Bubbles“ abschießen können, eine Beschäftigung, für die damit geworben wird, man erwerbe und verbessere so das „strategische Denken“.

In Wirklichkeit reagiert man während solcher „Games“ wie eine Trivialmaschine auf Reize, die von vernunftlosen Vorrichtungen ausgehen, gemäß den schlimmen Unheilsworten von Marx aus dem April 1856: „All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.“***

Wer diesen elenden „gesellschaftlichen Beziehungen“ der Gegenwart früh genug in Kita oder Grundschule unterworfen wird, kann dann zu dem Zeitpunkt, da es fürs Überleben dieses Erziehungs- und Bildungssystems schließlich Reifebescheinigungen gibt, zwar keinen Strahlensatz anwenden, kein Krabbeltierchen bestimmen, keine Verbrennungsreaktion aufschreiben und weder deklinieren noch konjugieren, aber dieses umfassende Unvermögen ist in Gruppen gelernt worden, nur darauf kommt’s an.

Selbst die Opposition gegen das sozial Vorhandene denkt mittlerweile in solchen naturwüchsigen Gruppen, und auch der Schritt aus dem niederen ins höhere Bildungswesen befreit nicht davon, weil Wohlmeinende an der Universiät Erkennntisinteresse und Erkenntnisarbeit verwechseln. Denn zwar ist empirisch wahr, dass erst mit dem Eintritt von Angehörigen verfolgter, ausgebeuteter oder unterdrückter Gruppen in Forschung und Lehre große Teile der (nicht nur) historischen Wahrheit plötzlich in den akademischen Blick rücken, weil diese Leute eben das nötige Erkenntnisinteresse mitbringen, während die Angehörigen der Täterkollektive ihren (teils geerbten) Vorteil aus jenem Unrecht zogen und eher ein Verkenntnisinteresse haben. Unwahr aber ist, dass irgendeine Gruppe (sagen wir: Arbeiterinnensöhne oder Migrantentöchter) einen epistemisch privilegierten Zugang zur Wahrheit besitzt, sei sie am Unrecht nun ausübend oder erleidend beteiligt (gewesen). 

Die Verwechslungen, die da passieren, müsste man geduldig diskutieren, aber die dafür erforderliche Sprache ist, wie Horkheimer schon in den Fünfzigern sah, „tot“, genau wie jede Menge sonstigen Bildungsgutes, und zwar „weil der Einzelne, der zum anderen spricht, als Einzelner, sagen wir als denkendes Subjekt, nichts mehr zu sagen hat – in dem Sinn, wie es heißt: ‚Der hat nichts zu sagen‘, das heißt, der ist ohnmächtig, er kann nichts vollbringen, auf sein Wort hin geschieht nichts“. Noch die sachlich zutreffendsten Äußerungen der scheinbar Mächtigsten erleben wir vor diesem Hintergrund heute als Unfälle aus Themaverfehlung, verhunztem Satzbau und schierem Lallen, etwa bei der Kanzlerin. Diese Entwertung der ehemals den Einzelnen zukommenden Mitteilungsfertigkeiten kommt für Leute, die sich an Marx erinnern, alles andere als überraschend. Denn das Individuum selbst, als bildungsfähiges Subjekt, ist eine Idee aus der Zeit des Konkurrenzkapitalismus, gesetzt unter Motti wie „Talent setzt sich durch“ oder „Fleiß gewinnt“, wofür als logische Voraussetzung eine breite Streuung der Mittel zum Gewinnen und Sichdurchsetzen vorliegen muss, also: des Eigentums.

Diese Eigentumsstreuung, lehrt Marx, weicht im kapitalistischen Spiel aber früher oder später mit Notwendigkeit der Konzentration des Kapitals – „je ein Kapitalist schlägt viele tot“.° Am Ende steht eine Wirklichkeit, in der zum Beispiel eine Erfinderin, wenn sie eine Erfindung erfindet, mit der sie im Konkurrenzkapitalismus reich geworden wäre, ihren Einfall nur noch a.) einer Bank, b.) einem Konzern oder c.) irgendeinem Venturedeppen verkaufen kann, sonst verbünden sich die drei und machen die Frau samt Idee einfach platt. Dieser allgemeinen Schutzgeld- und sonstigen Erpresserrealität entkommen auch Personen in vormals „freien Berufen“ nicht mehr, und so verwandeln sich die vom Kapitalismus zunächst versachlichten (das heißt: auf Leistungen gestellten) sozialen Beziehungen langsam in paradox unpersönlich-persönliche, nämlich solche der Abhängigkeit vom Wohlwollen abstrakt aller („likes“) und konkret einfach zufällig Vorgesetzter. 

In dieser Horrorlandschaft lernen die Kinder folgerichtig, wie man beliebt und unterwürfig zugleich ist, sich so darstellt und mit dieser Darstellung eins wird, also: schleimen, petzen, Mobbing, mit den Wölfen heulen und den eigenen Namen im Stuhlkreis tanzen (statt Gleichungssysteme oder Grammatik). 

Die Eigentumsstreuung von vor zweihundert Jahren ist nicht wiederherstellbar, jedenfalls (entgegen den radikalliberalen Träumen der Leserschaft von „eigentümlich frei“) kaum ohne Vernichtung der gegenwärtigen (und sei’s dezentralen und modularen) globalen Großproduktion, die man sich nicht wünschen sollte, weil sie vor allem Chaos und Massensterben brächte. Das Konkurrenzspiel liegt historisch stromaufwärts, es ist kein Rückgriff darauf zu haben. Das gesamtgesellschaftliche Erpresserwesen lässt sich nur noch für alle aufheben oder für niemanden. Dazu, wie das gehen könnte, hat sich Marx bekanntlich ausführlichere Gedanken gemacht als zur polytechnischen Erziehung; man lese sie nach. 

Bis diese Gedanken aber jemand umsetzt, hat man von der Einsicht in die beschriebenen Zusammenhänge und von etwaigen Bildungsresten im armen Schädel nicht viel, weshalb momentan allerlei uralter Hordenmuff, der neuerdings unter dem schicken Namen „Identität“ wieder im Angebot ist, einer wachsenden Anzahl Unzufriedener Erlösung von ihrer entwerteten Individualität verspricht. Verschmäht man das, so winkt als Trostpreis einstweilen nichts außer dem bisschen Selbstachtung derjenigen, die, wenn sie auf anonyme Weisung des großen Ganzen hin verblöden, seelisch verarmen, intellektuell verstummen, glotzen, klicken und übern Schirm wischen sollen, nicht auch noch dankbar für all die bunte Abwechslung sind. 


**) MEW 19, S. 30
***) MEW 12, S. 4.
°) MEW 23, [Kapital I], 791


Nota. - Marxens Überlegungen zur Erziehung und Bildung der Arbeiterkinder nennt die Ziele, die die Arbeiterbewegung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anvisieren muss. Er war jedoch ein Gegner dieser Gesellschaftsordnung und betrieb deren Sturz. Über die Erziehung in einer Idealwelt hat er sich wohlweislich nicht den Kopf zerbrochen. Nur soviel steht fest: Freie Zeit galt ihm als die prosaische Realform von Freiheit.
JE 




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